Erfordert die digitale Welt eine neue Ethik?
Die Ethik ist das Korrektiv, das den Menschen davon abhält, alles zu tun, was er tun könnte. Ein Korrektiv, das dem menschlichen Handeln moralische Leitplanken setzt. Die Ethik kommt immer dann um die Ecke, wenn der Mensch gedankenverloren drauflosstürzt, und wirft ein: Sollen wir das wirklich tun? Ist das, was daraus folgt, wirklich wünschenswert?
Technologischer Fortschritt gründet im Bestreben, die Grenzen des Machbaren auszudehnen. Gerade der rasante technologische Fortschritt der digitalen Welt orientiert sich am Machbaren. Die Frage nach dem Wünschenswerten wird nur im Kleinen gestellt, nämlich insoweit, als es darum geht, einzelne Probleme mit technischen Neuerungen zu lösen. Das Wünschenswerte im grossen Kontext, dem gesamtgesellschaftlichen, bleibt oftmals ausgeblendet. Wie sagte doch der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener sehr treffend bereits über die frühen Rechenmaschinen: «Sie haben etwas von den Zauberern im Märchen. Sie geben einem wohl, was man sich wünscht, doch sagen sie einem nicht, was man sich wünschen soll.»
Zu behaupten, die digitale Welt erfordere eine neue Ethik, wäre dennoch verfehlt. Ganz einfach deshalb, weil es die entsprechende Ethik längst gibt. Es reicht, wenn wir sie uns wieder ins Bewusstsein holen und dafür sorgen, dass sie eine wichtigere Rolle erhält, wenn es darum geht, Entscheide zu fällen und zu beurteilen.
Spätestens am 6. August 1945 hat die Erkenntnis eingesetzt, dass technische Machbarkeit nicht der alleinige Massstab technologischen Fortschritts sein darf. Der Abwurf der Atombombe über Hiroshima hat der Welt auf grauenvolle Weise vor Augen geführt, was möglich ist, wenn das Wissen und das Können vom Sollen losgelöst werden. Wohl war es ein politischer Entscheid, die Bombe einzusetzen. Die Grundlagen dafür hat die Wissenschaft geschaffen.
Der deutsche Philosoph Jürgen Mittelstrass hat sich intensiv mit dem Dilemma des technischen Fortschritts befasst. In seinem Buch Leonardo-Welt beschreibt er jene Welt, die sich der Mensch mit technologischen Mitteln selber erschaffen hat, indem er mit Technik die Natur vervollständigt hat. Die Leonardo-Welt, angelehnt an den grossen Erfinder und Tüftler Leonardo da Vinci, ist die Welt als Werk des Menschen: «Es ist eine Welt, in der sich die Verfügungsgewalt des Menschen, gestützt auf den wissenschaftlichen und den technologischen Verstand, eindrucksvoll zum Ausdruck bringt.»
Das Problem, so Mittelstrass, liegt darin, dass der Mensch dadurch, dass er seine Umwelt umformt, auch sich selber verändert. Er läuft dabei Gefahr, zum Gefangenen seiner eigenen Welt zu werden. Er ist dann nicht mehr in der Lage, dem Credo der Leonardo-Welt zu folgen, das da heisst: «Stelle Konstruktion und Entwicklung in den Dienst der Erhaltung und der Verbesserung der Lebensgrundlagen und des Lebens.» Der Mensch, ermahnt Mittelstrass, darf sich nicht von der technologischen Entwicklung treiben lassen, er muss sie aktiv steuern. Und dabei eine ethische Grundhaltung an den Tag legen, die sich auszeichnet durch «Augenmass, Selbstkritik, Wahrhaftigkeit, Aufklärung, den Willen zur Vernunft und Verantwortung». Der Mensch muss Wissen und Können immer am Sollen messen.
Sie lesen einen Auszug aus dem Buch «Kurzbefehl. Der Kompass für das digitale Leben.» von David Bauer. Sie können das Buch jetzt bestellen, weiterstöbern, diesen Text kommentieren oder selber eine Frage zum digitalen Leben stellen. Ah ja, und via Facebook weiterempfehlen dürfen Sie es auch gerne.
Dieser Grundgedanke muss vermehrt in die Diskussionen um derzeitigen und künftigen Fortschritt einfliessen. Fortschritt darf kein Selbstzweck sein, indem er die menschlichen Fähigkeiten unter Beweis stellt. Er darf vor allem nicht seine möglichen Folgen ausser Acht lassen. Es reicht hierfür nicht, gesinnungsethisch die gute Absicht des eigenen Handelns zu reklamieren. Gute Absichten sind eine schlechte Entschuldigung für böse Folgen. Die Konsequenzen menschlichen Handelns nimmt die Verantwortungsethik in den Blick. Daran gilt es technischen Fortschritt zu messen. Die digitale Welt braucht eine Ethik, die danach fragt, ob das, was wir tun, Wünschenswertes hervor- und mit sich bringt.
So können wir es uns nicht leisten, nicht genauer zu hinterfragen, was wir alles möglich machen, wenn persönliche Daten in immer grösserem Ausmass zentral gespeichert werden (Siehe: «Steuern wir auf die totale Überwachung zu?»). Es ist unsere Verpflich tung, über die Folgen des digitalen Grabens nachzudenken, den der Fortschritt zwischen Armen und Reichen aufreisst (Siehe: «Macht das Internet die Welt demokratischer?»). Wir müssen uns bewusst machen, welche Gefahren es mit sich bringt, wenn wir immer mehr Entscheide auf Algorithmen anstatt menschliches Urteilsvermögen abstützen (Siehe: «Was wird in zehn Jahren sein?»). Das sind nur wenige Beispiele von ethischen Fragen, die sich in der digitalen Welt aufdrängen.
Die Schwierigkeit, gerade bei der Entwicklung modernster Technologie, besteht zweifelsohne darin, dass die möglichen Folgen selten absehbar sind. Vieles, was heute entwickelt wird, kann irgendwann missbraucht oder zum Bösen verwendet werden. Der Fortschritt käme sofort zum Erlahmen, wenn nichts vorangetrieben werden dürfte, das bei allen viel versprechenden Aussichten auch negative Konsequenzen haben könnte. Es ist nicht Aufgabe und Sinn der Ethik, abschliessend ja oder nein zu sagen, einmalig zu verurteilen oder den Segen zu erteilen. Damit der Mensch nicht in seiner selbst erschaffenen Leonardo-Welt zu Grunde geht, muss die Ethik ständige Begleiterin der technologischen Entwicklung sein, stets an die Verantwortung aller Beteiligen appellieren und fortwährend unbequeme Fragen stellen. Alle, die die digitale Welt der Zukunft mitgestalten, müssen sich diese Fragen stellen. Wenn sie es nicht selber tun, müssen wir sie ihnen stellen.
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