Gut und Böse

Was hat dieses Web 2.0 tatsächlich gebracht?

Seit das Web vor fünf Jahren das Versionskürzel 2.0 angehängt bekommen hat, ist alles anders. Im Internet der zweiten Generation ist der Nutzer nicht mehr nur passiver Konsument, sondern kann aktiv Inhalte beisteuern. Er schreibt Blogs, lädt Videos bei YouTube hoch, bearbeitet Artikel bei Wikipedia, teilt Bilder bei Facebook. Das Internet ist einfach genug geworden, dass jeder zum Sender von Information werden kann.

Für Kritiker ist das Web 2.0 ein leichtes Ziel. Es ist so weit verzweigt und so vielfältig, dass sich für jede apokalyptische These ein Beleg findet. Für Euphoriker ist das Web 2.0 leicht zu verteidigen. Es ist so weit verzweigt und so vielfältig, dass sich für jede apokalyptische These ein Gegenbeleg findet. Leicht anzugreifen, leicht zu verteidigen – das sollte Hinweis genug sein, dass das Web 2.0 per se eigentlich gar nichts ist. Keine Entität, die normativ gut oder schlecht sein kann. Stattdessen ist es ein Boden, auf dem allerlei Leben gedeihen kann. Es wäre vernünftig, diesen Boden zumindest als wertneutral anzusehen. Mit etwas Optimismus und Vertrauen könnte man auch sagen: Gut, gibt es diesen Boden, schauen wir mal, was daraus wächst, und fällen unser Urteil dann über das Gewachsene, nicht den Boden.

Das Web 2.0 ist ein Instrument, das die Meinungsäusserungsfreiheit um die Möglichkeit erweitert, sich tatsächlich zu äussern. Es ist das Megaphon, das Menschen Gehör verschafft. Wenn wir den Menschen zugestehen, ihre Meinung zu äussern, dann ist es nur konsequent, grundsätzlich zu begrüssen, wenn sie gehört werden. Wenn wir uns über Hassprediger aufregen und über Menschen, die viel zu viel dummes Zeugs reden, dann müssen wir die Schuld nicht bei der Meinungsäusserungsfreiheit suchen. Sondern bei ebendiesen Menschen, die sie missbrauchen. Genauso ist es unsinnig, auf das Web 2.0 einzuprügeln, wenn wir eigentlich jene meinen, die Unfug damit treiben.

Man wünschte sich, das Web 2.0 wäre nie als buzzword so sehr ideologisch aufgeladen und mit so vielen Hoffnungen und Visionen verknüpft worden. Bei Lichte betrachtet ist es einfach das Internet von heute, die technische Umsetzung dessen, wofür das Internet von Beginn weg vorgesehen war: eine Plattform, die es jedem Menschen ermöglicht, sich zu äussern und mit anderen in Verbindung zu treten. In den letzten Jahren wurde dieses Potenzial entfesselt, so dass nun jede und jeder mit Internetanschluss kostenlos und ohne spezielle Kenntnisse veröffentlichen kann, was ihm beliebt. Dies hat unsere Gesellschaft in verschiedenen Bereichen tiefgreifend verändert. Diese Veränderungen gilt es zu diskutieren, nicht das Web 2.0 als solches.

Der informierte Bürger

Der Einfluss des Web 2.0 auf den öffentlichen Diskurs lässt sich knapp zusammenfassen: Besserwisser und solche, die es besser wissen, haben jetzt eine Stimme. Will heissen: Aussagen und Meinungen, sei es von Medien, Politikern oder anderen öffentlichen Personen, sind deutlich mehr Widerspruch ausgesetzt als bis anhin. In Blogs und Kommentarspalten, auf Twitter und YouTube kann jeder sich in eine Diskussion einklinken oder eine anstossen. Das führt im besten Fall zu einer dialektischen Weiterentwicklung von Positionen und zu einer raschen Beseitigung von Irrtümern. Je mehr kritischem Widerspruch eine Position ausgesetzt ist, desto verlässlicher wird sie. Das gilt, wenn jene, die widersprechen, es tatsächlich besser wissen als der ursprüngliche Absender der Botschaft. Die vielbeschworene Weisheit der Vielen funktioniert dann als Korrektiv für Irrtümer und Fehlleistungen von Einzelnen.

Der Weisheit der Vielen steht die Dummheit des Mobs entgegen. Das Web 2.0 hat auch einer ganzen Horde von Besserwissern eine Stimme gegeben, denen wenig an einem konstruktiven Diskurs gelegen ist, sehr viel dagegen an narzisstischem Nörgeln und der puren Lust an der Provokation. Sie stören den öffentlichen Diskurs, indem sie das Diskussionsniveau senken, offenes Debattieren torpedieren und so manchen abschrecken, der etwas Gehaltvolles beizutragen hätte. Sie sind oft anonym unterwegs, Rechtsverständnis und Unrechtsbewusstsein fehlen ihnen. Sie sind es, die einem Kritiker wie Andrew Keen in die Hände spielen, so dass dieser die «Stunde der Stümper» ausrufen kann, in der jeder Laie sich dazu befähigt fühlt, zu allerlei Themen Stellung zu beziehen.

Was Keen übersieht: In der Aufmerksamkeitsökonomie des Internets sind die Anfangshierarchien zwar relativ flach – doch wirklich gehört werden jene, die sich im Netz als Experte etablieren können. Denn jeder, der einem anderen widerspricht, ist selber dem Widerspruch der Masse ausgesetzt. Nur ernsthafte, durchdachte Positionen bestehen in diesem Wettbewerb. Darum ist es keineswegs so, dass im Netz die Stümper dominieren. Sie mögen viele sein, viel beachtet sind dagegen jene, die etwas zu sagen haben.

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Der informierte Konsument

Wenn sich Firmen von selbst ernannten Experten banale Ratschläge für teures Geld geben lassen, dann ist klar, dass eine rasante Entwicklung im Gange ist. Das Web 2.0 hat eine Spezies Mensch hervorgebracht, die Firmen Angst und Schrecken einjagt: den informierten Konsumenten. Er kennt seine Alternativen. Er setzt mit seinem Wissen die Firmen unter Druck, alles richtig zu machen. Tun sie es nicht, entzieht er ihnen sein Vertrauen. Und erzählt es gleich weiter. Das Web 2.0 gibt ihm alle Instrumente in die Hand, um seinen Unmut über eine Firma öffentlich zu machen. Sei es, weil ihr Produkt schlecht ist, sei es, weil sie sich unethisch verhält. Unter Umständen tritt er so eine ganze Lawine los, unter der das Image einer Firma verschüttgeht.

Ein unzufriedener Kunde bedeutet im Zeitalter von Web 2.0 Dutzende, Hunderte, vielleicht gar Tausende abgeschreckte andere Kunden. Der Konsument ist im Web 2.0 mehr denn je Markenbotschafter. Durchaus auch zum Vorteil von Firmen, sofern sie gut arbeiten. Ist der Kunde zufrieden, schreibt er eine positive Bewertung, empfiehlt das Produkt seinen Facebook-Freunden weiter oder twittert seine Begeisterung. Die Gesamtheit von positiven und negativen Meinungen zu einem Produkt, einer Dienstleistung oder einer Firma bietet jedem Konsumenten eine Entscheidungsgrundlage. Er erlebt eine neuartige Form der Transparenz und kann eine informierte Wahl treffen. Weil dies den Firmen das Leben schwer macht, leben derzeit Social-Media-Berater fürstlich. Sie versprechen den Unternehmen, ein Stück Kontrolle aus dem anarchischen Web zurückzugewinnen. Sie entwickeln Wege, wie der Kunde auch im sozialen Netz gezielt bearbeitet werden kann. Das funktioniert mal besser – etwa mit klugen viralen Kampagnen, die den Konsumenten spielerisch dazu bringen, eine Botschaft weiter zu verbreiten. Und mal schlechter – vor allem dann, wenn Firmen glauben, sie könnten sich gute Bewertungen erkaufen oder kritische Stimmen zum Verstummen bringen. Unternehmen sind heute gezwungen, sich mit dem Web auseinanderzusetzen. Zu sehr hängt ihr Image davon ab. Gleichzeitig ist es ein Spiel mit dem Feuer. Das Netz ist schwer zu kontrollieren und verzeiht keine Fehler. Und so gilt heute mehr denn je: Die beste Werbung ist ein herausragendes Produkt.

Der soziale Mensch

Auch im privaten Bereich hat das Web 2.0 vieles verändert. Es hat das Internet vom reinen Medium in einen zentralen Bestandteil unseres Lebens verwandelt. Die einfache Handhabung des Web 2.0 ermöglicht es allen Internetnutzern, Erlebtes in Form von Text, Bildern und Videos mit anderen zu teilen. Es ist diese Komponente des Teilens, das dem Netz den sozialen Charakter gegeben hat, den es heute hat. All die sozialen Netzwerke, die in den letzten Jahren Hunderte Millionen Mitglieder gewonnen haben, beziehen ihre Raison d’Être aus dem Teilen. Sie organisieren und regen es weiter an. Wir zeigen unsere Ferienfotos, ein Video des Neugeborenen, informieren über einen Jobwechsel. Wir bekennen, welche Musik wir mögen, welche Bücher wir lesen. Schreiben, was wir gerade tun, wo wir gerade sind. Verraten gar, wie es uns geht. In der Summe ermöglicht diese Art von Kommunikation, soziale Bindungen zu knüpfen und zu erhalten, mal klar beruflich orientiert (Xing), mal nur über den Musikgeschmack definiert (Last.fm), mal die gesamte Person erfassend (Facebook). Ist das Web 2.0 im öffentlichen Raum für Bürger und Konsument ein Instrument der Meinungsäusserung, so bietet es im Privaten eine Möglichkeit, sich als Mensch zu artikulieren und seine Kreativität auszuleben.

Der aufgeklärte Mensch in einer liberalen Gesellschaft soll so viele Freiheiten wie nur möglich erhalten und sich privat wie öffentlich einbringen. Das Web 2.0 als technische Erweiterung zur Meinungsäusserungsfreiheit ist eine mächtige und wichtige Errungenschaft. Wir müssen lernen, sie sinnvoll zu nutzen und verantwortungsvoll mit ihr umzugehen. Die Entwicklung zu bremsen, nur weil sie uns vor gewisse Probleme stellt, wäre fatal. Schliesslich versiegeln wir auch nicht den ganzen Boden, nur weil darauf neben Rosen und stolzen Eichen auch Unkraut wächst.

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