Was macht die Technologie mit unserer Identität?
Zwei Hunde sitzen vor einem Computer, der eine sagt zum anderen: On the internet, nobody knows you’re a dog. Der Comic, erstmals erschienen in The New Yorker im Juli 1993, ist eine Ikone. Er spiegelt Faszination und Unbehagen gegenüber dem Medium Internet – vor allem aber deutet er auf humorvoll-subtile Weise an, welch tiefgreifende Veränderung das Netz für unsere Identität bedeutet. Wenn niemand weiss, wer ich bin, kann ich alles sein. Die Identität im Netz ist eine leere Projektionsfläche, die ich neu bespielen kann. Das Internet bietet die Möglichkeit, jene Identität aus dem realen Leben, die sich über die Jahre verfestigt hat und der wir kaum mehr entfliehen können, im virtuellen Raum neu zu konstruieren, sie punktuell oder radikal zu verändern. Es ist eine Chance, die eigene Identität weiterzuentwickeln. Mit der Gefahr der Persönlichkeitsspaltung.
Die Identität eines Menschen ist die Spannweite seines Verhaltens und Empfindens in verschiedenen Situationen und Lebenslagen. Sie ist der Kern, der den Menschen für sich, aber auch für andere definiert, indem sie im eigentlichen Wortsinn Gleichheit herstellt (von idem = gleich). Ein Mensch ist immer der Gleiche, auch wenn er sich in verschiedenen Situationen unterschiedlich verhält und sich im Laufe seines Lebens verändert. Jürgen Habermas spricht von der vertikalen Ich-Identität, die den Menschen ein ganzes Leben zusammenhält, und von der horizontalen Ich-Identität, die die verschiedenen Rollen, die ein jeder zu erfüllen hat, vereint.
Die Identität wird dann besonders herausgefordert, wenn eine neue Rolle in Widerspruch zum bisherigen Selbstverständnis eines Menschen gerät, wenn entweder fremde Erwartungen und Vorstellungen oder das Selbstbild nicht mehr dem gewohnten entsprechen. Genau auf dieses Spiel lassen wir uns ein, wenn wir uns daran machen, unsere Identität in den virtuellen Raum auszuweiten. Das Radikale daran ist, dass wir unsere ganze körperliche Identität zurücklassen. Alles, was uns rein äusserlich definiert, ist im Internet zunächst einmal nicht präsent. Das eröffnet ganz andere Möglichkeiten, als wenn wir beispielsweise in eine neue Stadt ziehen, dabei aber selbstverständlich unseren Körper mitnehmen.
Das Internet ist ein grosses, weites Experimentierfeld für Charakterzüge und für alles, was uns ausmacht. Es lässt uns im Chat mit Arbeitskollegen schlagfertiger sein als im direkten Gespräch, im Facebook-Profil selbstbewusster als in einer Bar unter Freunden, unter Pseudonym in einem Blog viel sensibler als im rauen Alltag. Es befriedigt die kindliche Freude am Verkleiden und Rollenspielen und das menschliche Bedürfnis, verborgene Seiten auszuleben. Es braucht dafür keine expliziten Paralleluniversen wie Second Life, in dem der Nutzer ein virtuelles Alter Ego nach Belieben gestalten kann, virtueller Körper inklusive. Es sind die ganz alltäglichen Anwendungen im Internet, die unserer Identität eine neue Dimension geben, ob wir das wollen oder nicht. Denn das Internet bietet dem Nutzer nicht nur die Möglichkeit, seine Identität neu zu definieren, es zwingt ihn dazu. Die einen formen sich ganz bewusst eine Online-Identität im Kontrast zu dem, was sie tatsächlich sind, andere werden in ihrer Persönlichkeit vom virtuellen Raum geprägt, sind im Netz enthemmter als ausserhalb oder verkrampfen in der technisierten Interaktion. In jedem Fall besteht die Herausforderung darin, sich in der neuen Rolle zurechtzufinden.
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Letztlich gelingt dies nur dann, wenn das, was wir online ausleben, auch offline standhält, wenn das Online-Ich und das Offline-Ich in einer Art dialektischen Persönlichkeitsentwicklung sich gegenseitig herausfordern und eine Synthese formen, die nicht synthetisch ist, sondern authentisch. Gelingt es nicht, driften Online- und Offline-Persönlichkeit so weit auseinander, dass sie sich nicht mehr zu einer Identität vereinen lassen. Es gibt sie in Tausendschaften, jene Tastatur-Superhelden, die an der frischen Luft auf Minaturformat schrumpfen, jene selbstbewussten Online-Akrobaten, die offline ganz schüchtern und kleinlaut sind. Ein virtuelles Ich, das nurmehr Rollenspiel ist, lässt sich mit dem realen Ich auf Dauer nicht vereinen.
Hier stösst der komplette Neuaufbau einer Identität jäh an seine Grenzen. Ein Hund bleibt auch im Internet ein Hund, wenn es auch einen Moment länger dauert, bis er als solcher erkannt wird – und sich selber als solcher wiedererkennen muss. Dazu passt, dass sich das Internet je länger, desto mehr von einem Tummelplatz anonymer Alter Egos zu einem Treffpunkt realer Menschen entwickelt. Die virtuellen Räume, die wir im Netz einst als Ergänzung, ja Gegenstück zur Realität geschaffen haben, verschmelzen mit dieser zunehmend wieder. Second Life ist genau daran gescheitert, dass es versucht hat, ein komplett von der Realität abgekoppeltes Paralleluniversum zu schaffen. Heute animieren immer mehr Anwendungen ihre Nutzer dazu, sich tatsächlich zu identifizieren, mit realem Namen und Profilbild. Grossen Anteil an diesem Kulturwandel hat facebook, das Hunderte Millionen reale Identitäten ins Netz gebracht hat. Wenn wir einen wesentlichen Teil unserer bestehenden Identität mit in die virtuelle Welt bringen, so stehen wir unter Beobachtung all jener, die uns aus der Offline-Welt kennen. Dass wir somit nicht nochmal bei null anfangen können, erscheint wie ein Fluch, ist aber ein Segen; es bewahrt uns nämlich davor, unsere Persönlichkeit zwischen virtueller und realer Welt aufzuspalten. Genügend Spielraum für Experimente bleibt allemal.
Das Internet ist in einem gewissen Sinne wie Alkohol, sagte die Journalistin Esther Dyson einmal. Es bringt jene Züge in uns stärker zur Geltung, die wir ohnehin haben. Übertreibt man das Spiel, kommt es zum Absturz. Kennt man aber das richtige Mass, eröffnet es die Gelegenheit, Sachen auszutesten, die man sich sonst nicht trauen würde.
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