Wie wehre ich mich gegen die digitale Demenz?
Der erleuchtete Mensch der Neuzeit hat einen bläulichen Schimmer auf dem Gesicht. Er starrt auf einen Computerbildschirm und hat gerade vergessen, was er eigentlich wollte.
Wir haben uns zum Glauben hinreissen lassen, dass Maschinen alles für uns erledigen können. Leider scheitert dieses Modell grandios. Die Maschinen funktionieren nur, wenn wir ihnen sagen, was sie tun sollen. Weil die moderne Technik aber auf seltsame Weise unsere Konzentration lähmt, sind wir dazu immer öfter ausserstande.
Ich erwische mich dabei, wie ich scheinbar informationshungrig, aber eigentlich komplett wahllos durch Websites zappe, weil mir entfallen ist, was ich eigentlich wollte. Viel zu oft passiert es mir, dass ich inmitten von zig Fenstern ein neues öffne und gleich wieder vergessen habe, wozu. Und schliesslich schalte ich den Computer aus, um im gleichen Moment zu realisieren, dass ich genau das, wofür ich ihn vor einer halben Stunde eingeschaltete habe, nicht getan habe.
Doch selbst wenn ich weiss, was ich tun müsste, lasse ich mich dauernd ablenken. Wie ferngesteuert rufe ich alle paar Minuten Facebook und Twitter auf, bloss um jedes Mal festzustellen, dass in der Zwischenzeit nichts Neues passiert ist, und wenn, dann nichts von Bedeutung. Klicke in der Mailbox umher, wähle bei iTunes einen neuen Song zum Abspielen. Oh, und bei Facebook war ich schon lange nicht mehr. Die Zeit vergeht, ich bin auf eine denkbar passive Art aktiv und verhindere so, dass ich zur Ruhe komme, die ich brauchte, um tatsächlich voranzukommen. Sogar wenn ich mich in einem Akt der Selbstdisziplinierung vom Computer losreisse, kreisen meine Gedanken wild umher und ständig habe ich das Gefühl, etwas im Netz nachsehen zu müssen. Das Netz ist, Laptops und Smartphones sei Dank, allgegenwärtig. Wie Stimmen im Kopf lockt es immer und überall, buhlt um meine Aufmerksamkeit und unterbricht, sobald ich einen klaren Gedanken fassen will.
Computer verwandeln mich regelmässig und zuverlässig in einen zerstreuten Menschen. In meiner Zerstreuung werde ich willenlos. Der Rausch der Technik betäubt meine Sinne, fährt meinen Verstand temporär auf Standby herunter. In diesem Moment beginnt die Abhängigkeit. Weil mein Denken so brutal fragmentiert ist, meine Aufmerksamkeitsspanne lächerlich kurz geworden ist, kann ich gar nicht anders, als mich Klick um Klick vorwärtszuhangeln. Ich steuere nicht mehr auf ein Ziel zu, es verschlägt mich irgendwohin. Am Ende habe ich nicht gefunden, wonach ich suchte, was aber keine Rolle spielt, weil ich längst vergessen habe, was es war, das ich suchte.
Sie lesen einen Auszug aus dem Buch «Kurzbefehl. Der Kompass für das digitale Leben.» von David Bauer. Sie können das Buch jetzt bestellen, weiterstöbern, diesen Text kommentieren oder selber eine Frage zum digitalen Leben stellen. Ah ja, und via Facebook weiterempfehlen dürfen Sie es auch gerne.
Gegen den Exzess hilft ein Entzug, die digitale Abstinenz. Computer ausschalten, Handy in eine Schublade stecken, den Stecker ziehen. In besonders akuten Fällen wirkt das Wunder und ist uneingeschränkt zu empfehlen (Siehe: «Wo kann ich mich von dem ganzen Technikwahnsinn erholen?»). Eine nachhaltige Lösung ist es aber nicht. Auf die Dauer müssen wir lernen, mit der Technik klarzukommen. Zu wichtig ist sie für unser Leben. Wir müssen lernen, sie für uns arbeiten zu lassen, ohne dass sie uns dabei arbeitsunfähig macht.
Was macht man also im Zustand maximaler Zerstreuung? Man greift auf die Quantenphysik zurück. Genauer gesagt auf einen Nobelpreisträger der Quantenphysik. Denn einer, der sich in Quantenphysik versteht, muss einen ganz schön klaren Kopf haben. Richard Feynman heisst der Mann, der den Ausweg aus der Sackgasse des digitalen Nomaden kennt. Er hat eine einfache Formel geprägt, mit der sich jede Herausforderung anpacken lässt.
1) Schreibe das Problem auf
2) Denke scharf nach
3) Schreibe die Lösung auf
Was wir brauchen, ist eine Rückbesinnung auf den menschlichen Verstand. Eine Reaktivierung unseres Gehirns als Kontrollinstanz unseres Handelns. Dieses Wunder der Natur, mit dem wir alle in einem sozialistischen Akt der Gleichheit von Geburt an ausgestattet worden sind, muss wieder die Entscheidungshoheit erhalten. Nicht blind drauflosgoogeln, sondern scharf nachdenken.
Viel öfter, als wir glauben, liegen die Antworten auf ein Problem in unserem Kopf bereit. Wir müssen sie nur abholen. Das dauert einen Moment oder zwei. Ist die Antwort beim dritten Moment noch immer nicht gefunden und auch niemand in der Nähe, der sie kennt, dann ist wohl der Griff zur Technik tatsächlich die beste Wahl. Wir müssen weder den ganzen Zugfahrplan im Kopf haben noch Wikipedia auswendig kennen. Wenn mir partout nicht mehr in den Sinn kommen will, wie das Hotel in Tokio hiess, von dem ich so begeistert war, dann google ich es eben.
Das Entscheidende ist: Die Technik ist dann die beste, nicht die erste Wahl. Wir haben unseren Verstand zwischengeschaltet, um die beste Wahl zu finden. Nur wenn wir diese Distanz zwischen uns und unsere technischen Gehilfen legen, können wir sie vernünftig und zielgerichtet nutzen. Das ist so einleuchtend banal, dass es richtig weh tut, wie selten wir es tun.
Wir entlasten unseren Kopf, indem wir ihn belasten. Indem wir ihn aus dem Dauerbeschuss nehmen und in Ruhe arbeiten lassen. Erst wenn wir nicht mehr von Infohappen zu Infohappen hetzen und unsere Aufmerksamkeit nicht mehr in Sekundenbruchteile zerlegen, sind wir wieder imstande, Dinge geregelt zu kriegen, ohne auf halben Wege zu vergessen, was wir eigentlich wollten.
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