Sein und Selbst

Verstehen wir weniger von der Welt als früher?

Der Mensch hat ein Problem mit seinem Wissen. Was er tatsächlich weiss und was er zu wissen glaubt, liegt mitunter weit auseinander. Doch nicht, weil der Mensch sein Wissen überschätzt, nein, er unterschätzt es. Das ist so, weil sich Wissen einfacher relativ als absolut fassen lässt. Es fällt dem Menschen schwer, zu verstehen, wie viel er effektiv weiss. Demgegenüber hat er ein feines Gespür dafür, wie wenig er weiss, gemessen an all dem, was man wissen könnte. Kein Wissen ohne schlechtes Gewissen.

Das Internet hat dieses Problem potenziert. Absolut gesehen weiss der homo digitalis so viel, wie keiner seiner Vorfahren je wusste. Er ist besser informiert denn je und hat jederzeit eine Fülle von zusätzlichen Informationen in Klickweite. Gleichzeitig wird uns in einer neuartigen Brutalität vor Augen geführt, was wir alles nicht wissen. Das Internet führt uns über zig Kanäle mit einer atemraubenden Geschwindigkeit neue Information zu. Jede Information, die wir im Netz abrufen, verzweigt in ein ganzes Netz von Informationen, die alle nur einen Klick entfernt sind. Die Welt um uns herum wird immer komplexer und zugleich sichtbarer. Egal, ob wir versuchen, einen Überblick zu gewinnen, oder in die Tiefe vordringen, stets steigt die Erkenntnis, dass wir eine ganze Menge nicht wissen.

Kein Wunder, behauptet das geflügelte Wort, die Internetgeneration sei «overnewsed, but underinformed». Das stimmt aber nicht. Genau genommen sind wir «overnewsed and overinformed». Es ist ja nicht so, dass wir aus den Neuigkeiten keine Informationen herausziehen könnten, was uns zu unterinformierten Wesen machen würde. Wir erhalten aber so viele Informationen – neue und solche, die uns wieder in Erinnerung gerufen werden –, dass sie den Kanal verstopfen, über den Information zu Wissen verarbeitet wird. Wissen ist verarbeitete Information, der Weg von den Informationsbausteinen zum Wissen erfordert Zeit und Geist. Jeder Fliessbandarbeiter weiss jedoch: Die Produktion kollabiert, wenn zu viele Teile auf dem Band liegen oder das Band zu schnell läuft. Das Fliessband Internet lässt Abertausende von Teilchen in gefühlter Lichtgeschwindigkeit auf uns zurasen. Gemäss einer aktuellen Studie der University of California in San Diego werden dem Menschen pro Tag durchschnittlich 34 Gigabytes an Information zugeführt, darunter alleine über 100 000 Wörter. Rund 27 Prozent davon kommen aus dem Computer.

Früher, vor gar nicht allzu langer Zeit, war das noch deutlich angenehmer. Man schlug morgens die Zeitung auf, Tag für Tag, um jedes Mal beruhigt festzustellen, dass in der Welt gerade so viel geschehen war, wie auf den Zeitungsseiten Platz hat. Die Information im Zeitalter der Zeitung war endlich. Eine beruhigende Illusion (Siehe: «Welche Bedeutung wird das gedruckte Wort künftig noch haben?»).

Das Einzige, was im Internetzeitalter noch endlich ist, ist unsere Aufnahmefähigkeit. Wie wir uns auch anstellen, wir werden immer nur einen winzigen Teil dessen, was täglich an Information auf uns einprasselt, aufnehmen und zu Wissen verarbeiten können. Das ist frustrierend. Jedoch nur, solange man nach dem Falschen strebt: danach, immer mehr immer schneller zu verarbeiten.

Kurzbefehl von David BauerSie lesen einen Auszug aus dem Buch «Kurzbefehl. Der Kompass für das digitale Leben.» von David Bauer. Sie können das Buch jetzt bestellen, weiterstöbern, diesen Text kommentieren oder selber eine Frage zum digitalen Leben stellen. Ah ja, und via Facebook weiterempfehlen dürfen Sie es auch gerne.

Das Netz auferlegt uns eine sokratische Charakterprüfung. Wir müssen lernen, unser Nichtwissen zu akzeptieren und als Teil unseres Wissens zu verstehen. Das Wissen um das eigene Nichtwissen bringt die eigentliche Erkenntnis. Und Linderung für das schlechte Gewissen.

Nun ist die Interaktion mit dem Internet leider keine besonders sokratische. Der griechische Denker pflegte seine Gesprächspartner Schritt für Schritt zur Erkenntnis zu begleiten, indem er kluge Gegenfragen stellte. So lange, bis das Gegenüber der Grenzen seines Wissens gewahr wurde. Das Internet ist ein Sokrates mit Logorrhö. Es schüttet uns so lange mit Informationen und Fragen zu, bis wir nicht mehr können.

Wenn wir im Moment des Ergebens die Grenzen unseres Wissens akzeptieren und uns bewusst machen, dass wir vermutlich viel mehr wissen, als wir denken, so haben wir bereits sehr viel von der Welt verstanden.

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