Leben und Überleben

Darf ich Wikipedia glauben?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir Wikipedia nicht als Lexikon verstehen, sondern als Lektion. Eine Lektion in Konstruktivismus und kritischem Denken. Haben wir diese Lektion verstanden, so kann die Antwort nur lauten: Ja, selbstverständlich dürfen wir glauben, was bei Wikipedia steht.

Kritiker werfen Wikipedia vor, dass es voller Fehler und bewusster Fehlinformation sei. Weil jeder, ob er nun Nobelpreisträger ist oder den halben IQ von Forrest Gump hat, mitschreiben kann. Weil jeder, ob mit hehren Absichten oder zweifelhaften Motiven, seine persönliche Sicht der Dinge ins Lexikon hineinschreiben kann. Tatsächlich kann ich, zumindest in der englischsprachigen Version, jederzeit den Eintrag zur Stadt Basel bearbeiten und hineinschreiben, dass diese im Kanton Zürich liegt. Innert Stunden, manchmal gar noch schneller, ist es allerdings wieder korrigiert. Weil es falsch ist. Und weil viele Menschen das wissen.

Wikipedia baut auf dem Prinzip der Weisheit der Vielen auf. Kurz erklärt: Viele Menschen wissen mehr als ein Einzelner, sofern sie unabhängig voneinander sind. Ein Lexikon ist demnach umfassender, aktueller und präziser, je mehr Leute daran mitarbeiten und sich gegenseitig korrigieren. So ist in weniger als zehn Jahren das grösste Lexikon der Welt entstanden, mit über 14 Millionen Artikeln in über 260 Sprachen. Bei fast jeder siebten Google-Suche erscheint ein Wikipedia-Eintrag an oberster Stelle. Und das Wichtigste: Studien, wie etwa vom renommierten Fachmagazin Nature, haben gezeigt, dass Wikipedia genauso gut ist wie traditionelle Lexika. Trotz seiner Fehler und Ungenauigkeiten.

Der Konstruktivismus lehrt uns, dass es keine reine Wirklichkeit gibt. Wirklichkeit wird immer von Menschen erschaffen, mit ihrem jeweiligen Erfahrungshintergrund und aus einem bestimmten Kontext heraus. Unterschiedliche Menschen erschaffen unterschiedliche Wirklichkeiten. Selbst ein Lexikoneintrag, dem gemeinhin keine subjektive Färbung unterstellt wird, ist geprägt von denjenigen, die ihn verfasst haben. Wikipedia macht diese innere Widersprüchlichkeit, der kein Lexikon entfliehen kann, transparent und fordert den Nutzer auf, mitzudenken. Wissen wird bei Wikipedia als das abgebildet, was es tatsächlich ist: ein laufender Prozess, kein Zustand. Irrtum und Korrektur sind zentrale Bestandteile dieses Prozesses, keine Systemfehler. Anders als bei traditionellen Lexika ist jeder Eintrag stets dem kritischen Auge aller Leser ausgesetzt und muss sich laufend bewähren. Das poppersche Falsifikationsprinzip zeigt sich auf Wikipedia in Reinform. Einträge bei Wikipedia durchlaufen einen Reifeprozess, umso intensiver, je öfter sie gelesen werden, und gelangen irgendwann an einen Punkt, wo die Korrekturen seltener und marginaler werden. Es gibt keinen Grund, diese Inhalte als weniger glaubwürdig einzustufen denn jene, die in einem traditionellen Lexikon zu finden sind.

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Eine Ausnahme bilden Themen, bei denen verschiedene Interessengruppen um die Deutungshoheit ringen, etwa der Nahostkonflikt oder Scientology. Die Weisheit der Vielen versagt da, wo die Beteiligten nicht darauf aus sind, Wissen gemeinsam zu kuratieren, sondern andere von ihrer Meinung zu überzeugen. Zur Qualitätssicherung werden solche Einträge bei Wikipedia inzwischen moderiert und können nicht mehr beliebig umgeschrieben werden. Die deutschsprachige Version von Wikipedia setzt mittlerweile auch bei weniger kontroversen Themen auf Moderatoren und hat sich damit ein Stück weit vom radikal offenen Urmodell der englischsprachigen Wikipedia verabschiedet.

Vermutlich ist eines der grössten Verdienste von Wikipedia, dass es unser Misstrauen geweckt hat. Bloss sollte dieses Misstrauen nicht Wikipedia als Online-Lexikon gelten, sondern dem Konzept von objektiven Wahrheiten. Trauen Sie Wikipedia ruhig, jedoch stets mit einer gesunden Skepsis. Derselben Skepsis, die Sie hoffentlich auch jeder anderen Information entgegenbringen, die an Sie herangetragen wird.

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