Trends und Zukunft

Hat irgendjemand noch den Durchblick?

Es gibt zwei Gruppen von Menschen, die glauben, den Durchblick im digitalen Leben zu haben. Die einen rennen jeder technologischen Neuerung nach und sind stolz darauf, jedes neue Produkt vor der Masse zu kennen. Sie glauben, dass sie an vorderster Front stehen, mache sie zu Experten. Die anderen stehen voller Überzeugung mit beiden Füssen in der analogen Welt und üben sich in skeptischer Kontemplation. Sie glauben, dass sie sich der Entwicklung verweigern, mache sie zu Experten. Die Archetypen der beiden Gruppen sind der junge Blogger und der ergraute Journalist. Statt den Durchblick haben sie den Tunnelblick.

Was beiden gemein ist: Ihnen fehlt die richtige Distanz zum Betrachtungsgegenstand. Die einen sind zu nah dran und nicht in der Lage, einen Schritt zurück zu machen, um das Ganze in einem grösseren (zeitlichen wie gesellschaftlichen) Kontext zu sehen. Die anderen sind in ihrer koketten Angewidertheit zu weit weg, als dass sie tatsächlich verstehen könnten, was hier vonstattengeht (Siehe: «Darf ich all dieses technische Zeugs einfach doof finden?»).

Tatsächlich ist es eine grosse Leistung, gleichzeitig mit der rasend schnellen technologischen Entwicklung Schritt zu halten und den Blick für das grosse Ganze zu behalten. Und dann das alles noch anderen auf verständliche Art und Weise zu vermitteln. Es gibt sie aber, kluge Menschen, die genau diese drei Eigenschaften vereinen. Eine kleine Vorstellungsrunde von Menschen, die Ihnen weiterhelfen werden, sollten vollkommen wider Erwarten nach der Lektüre dieses Buches noch Fragen offen bleiben.

Clay Shirky (*1964)  —  Seit Mitte der 90er Jahre ist der Autor und Berater eine der prägenden Stimmen, wenn es darum geht, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Implikationen des Internets zu erklären. Zusammenzutragen, was Shirky im Laufe der Jahre schon alles Kluges zum Internet gesagt und geschrieben hat, gleicht dem Bestreben, die schönsten Dribblings von Lionel Messi zusammenzustellen. Eine seiner wichtigsten Feststellungen ist, dass das Internet ein System ist «in dem Besseres entsteht, wenn man gute Mitwirkende hat, als wenn man gute Planer hat». In verschiedenen Publikationen hat er das Potenzial kollaborativer Arbeit im Netz hervorgehoben und tritt all jenen entschieden entgegen, die behaupten, das Internet mache den Menschen dümmer. In seinem jüngsten Buch beschreibt er den viel beklagten Informationsüberfluss im Netz als wertvolle kreative Explosion.
Lesen: Cognitive Surplus: Creativity and Generosity in a Connected Age (Penguin Press)

Danah Boyd (*1977)  —  Die amerikanische Ethnographin sagt über sich selber: Ich liebe Technologie; aber ich liebe auch, sie kritisch zu beleuchten. Sie vereint damit die beiden nötigen Grundhaltungen, um Gehaltvolles zum Verständnis der digitalen Welt beizutragen. Sie hat sich vor allem einen Namen gemacht mit scharfen Beobachtungen, wie junge Menschen sich in social networks verhalten und wie diese neuen Kommunikationsformen Mensch und Gesellschaft beeinflussen. Ein wichtiges Augenmerk richtet sie dabei auf das immer zentraler werdende Spannungsfeld zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit.
Lesen: Making Sense of Privacy and Publicity (Referat)

David Weinberger (*1950)  —  Der amerikanische Philosoph war einer der Autoren des visionären Cluetrain Manifesto, das im Jahr 1999 in 95 Thesen beschrieb, wie das Internet Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend verändert, insbesondere, wie es Konsumenten zu denkenden Menschen emanzipiert. Das Werk ist noch heute praktisch unverändert aktuell, ganz einfach deshalb, weil es damals die sich abzeichnenden Entwicklungen so genau erfasst hat. Zuletzt hat sich Weinberger vor allem mit der Frage auseinandergesetzt, wie wir im digitalen Zeitalter die Unordnung als neues ordnendes Prinzip akzeptieren müssen und welche Vorteile sich daraus ergeben.
Lesen: Everything is Miscellaneous: The Power of the New Digital Disorder (Times Books)

Paul Carr (*1979)  —  Er ist, wie er selber sagt, grandios daran gescheitert, aus der Dotcom-Blase der Jahrhundertwende mit seinen eigenen Firmen Profit zu schlagen. Also hat er beschlossen, über den Erfolg anderer Menschen zu schreiben, anstatt selber welchen zu haben. Ein guter Entschluss. Wie kaum ein Zweiter kommentiert er die Technologiebranche zugleich scharfzüngig und scharfsinnig. Nachzulesen in zwei Büchern, vor allem aber in seiner wöchentliche Kolumne für den Technologieblog TechCrunch. Seine Bekanntheit verdankt der Brite seinem unverfrorenen Stil. Respekt aber verdient er für die oftmals sehr treffenden Analysen, die nahe an der Aktualität sind und dennoch den entscheidenden Schritt zurück machen.
Lesen: Paul Carrs Kolumne, NSFW, bei TechCrunch

Kurzbefehl von David BauerSie lesen einen Auszug aus dem Buch «Kurzbefehl. Der Kompass für das digitale Leben.» von David Bauer. Sie können das Buch jetzt bestellen, weiterstöbern, diesen Text kommentieren oder selber eine Frage zum digitalen Leben stellen. Ah ja, und via Facebook weiterempfehlen dürfen Sie es auch gerne.

Miriam Meckel (*1967)  —  Die deutsche Kommunikationswissenschaftlerin mit einem Lehrstuhl an der Universität St. Gallen schafft es als eine der wenigen im deutschsprachigen Raum, die Brücke zu schlagen zwischen wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit und persönlicher Teilnahme an der neuen Medienwelt. Sie bereichert die Debatte mit geistreichen Referaten und Artikeln, die sich vor allem mit der Frage auseinandersetzen, wie die neue Internetrealität die Kommunikation (zwischen Individuen wie auch zwischen Institutionen und Individuen) verändert.
Hören: This Object Cannot Be Liked (Referat)

Nicholas Carr (*1959)  —  Internet-Euphoriker mögen Carr nicht. Das ist ein gutes Zeichen. Sein kritischer Blick auf die technische Entwicklung der letzten Jahre ist wichtig, weil er den Fokus weglenkt von der Frage «Was ist möglich?» hin zu «Ist das auch gut so?». In zahlreichen viel beachteten Essays und mehreren Büchern hat er den Scheinwerfer auf Entwicklungen gerichtet, die hinterfragt werden wollen, etwa die Frage, welchen Einfluss das Internet auf unser Denken und unsere Selbständigkeit hat. Carr spricht die grossen Themen der digitalen Welt an, provoziert Widerspruch und ist so ein idealer Sparringspartner.
Lesen: Rough Type, Nicholas Carrs Blog

Sarah Lacy (*1975)  —  Die amerikanische Bloggerin ist bekannt dafür, dass sie im Silicon Valley jeden kennt. Interessant ist sie aus einem anderen Grund. Sie zeichnet das big picture im geografischen Sinne. Mit ihren Berichten über die digitale Welt fernab der Zentren ruft sie immer wieder in Erinnerung, dass technologischer Fortschritt nicht nur in den USA, Westeuropa und Fernost stattfindet. Sie ermöglicht Einblicke in die faszinierende digitale Welt von Brasilien, Indonesien oder Südafrika.
Lesen: Ihr neues Buch über die Digitalisierung in Entwicklungsländern erscheint Ende 2010 (John Wiley & Sons)

Tim O’Reilly (*1954)  —  Man würde nicht unbedingt vermuten, dass einer, der in Harvard Altertumswissenschaften studiert hat, zu den klügsten Köpfen der digitalen Welt gehört. Doch Tim O’Reilly ist seit Jahren unverzichtbar, wenn es darum geht, die rasend schnelle Entwicklung ansatzweise erfassen zu können. Sein Verlag O’Reilly Media ist spezialisiert auf Handbücher, vor allem zu Programmiersprachen und Software-Produkten. O’Reilly selber mischt sich immer wieder in Diskussionen über «das grosse Ganze» ein. So hat er 2005 den heute omipräsenten Begriff des Web 2.0 geprägt und analysiert regelmässig, zuletzt mit zunehmender Sorge, wie es um das Internet als weltumspannendes «Betriebssystem» steht. Wenn er seine Meinung kundtut, hört die Technologiewelt zu.
Lesen: The State of the Internet Operating System (Essay)

Alan Rusbridger (*1953)  —  Der Chefredaktor des Guardian ist der beste Beweis dafür, dass es auf diesem Planeten doch Printjournalisten gibt, die verstanden haben, was im digitalen Zeitalter wichtig ist. Er hat den ehrwürdigen Guardian zu einer massgebenden Onlinepublikation aufgebaut, die weit über die Grenzen Englands hinaus ein Millionenpublikum erreicht und Massstäbe für Qualitätsjournalismus im Internet setzt. In Debatten um die Zukunft des Journalismus ist er eine der prägenden Stimmen. Ihm zuzuhören bedeutet, etwas über die Welt von morgen zu lernen.
Lesen: The Hugh Cudlipp Lecture: Does Journalism Exist? (Referat)

Pyrrhon von Elis (*ca. 360 v. Chr.)  —  Wie gut sein Durchblick mehr als 2000 Jahre nach seinem Tod noch ist, ist ungewiss. Klar ist aber: Pyrrhon von Elis kann uns helfen, mit den Überforderungen der digitalen Welt zurechtzukommen. Er gilt als erster Skeptiker im eigentlichen Sinne und hat als solcher in einer Welt voller Fragezeichen seinen Seelenfrieden, die ataraxia, gefunden. Der Weg dorthin führt über eine einfache Erkenntnis: Die Dinge der Welt sind unerkennbar und wir können deshalb kein Urteil über sie fällen. Nicht mehr müssen wir also tun, als der digitalen Welt mit Skepsis im ursprünglichen Wortsinn zu begegnen.
Lesen: Grundriss der pyrrhonischen Skepsis von Sextus Empiricus (Suhrkamp)

> Zum Inhaltsverzeichnis