Gut und Böse

Macht das Internet die Welt demokratischer?

Ja, findet das führende Technologiemagazin Wired. Es ist sich dabei so sicher, dass es das Internet kurzerhand für den Friedensnobelpreis 2010 nominiert hat. «Das Internet ist die erste weapon of mass construction. Wir können damit Hass und Konflikte nieder ringen und Friede und Demokratie verbreiten», begründete der Chefredaktor der italienischen Ausgabe die ungewöhnliche Nominierung. Das Internet soll also in eine Reihe gestellt werden mit Figuren wie Michail Gorbatschow, Nelson Mandela und Martin Luther King Jr., mit Organisationen wie Amnesty International, dem Internationalen Roten Kreuz und den UN-Friedenstruppen. Grund genug, genauer hinzusehen und der Frage auf den Grund zu gehen: Macht das Internet die Welt wirklich demokratischer? Die Antwort: Ja, aber.

Ja, denn das Internet schafft Zugang zu Information

Wissen ist Macht. Vor allem dann, wenn wenige wissen und viele nicht wissen. Eine Gesellschaftsordnung ist daher umso demokratischer, je besser informiert die Menschen sind. Nur ein informierter Bürger ist ein unabhängiger, handlungsfähiger Bürger. Nur wenn er Zugang zu Information hat, kann er Missstände erkennen und Veränderungen anstossen. Das Internet macht die Ressource Information, die Wissen und letztlich Macht bedeutet, für alle zugänglich. Information ist dank des Internets leichter verfügbar, leichter zu finden und kann einfacher weiter verbreitet werden. Die Rezipientenfreiheit, das Recht jedes Bürgers, sich zu informieren, wird als tragender Pfeiler der Demokratie mit dem Internet ideal verwirklicht. Dass das Internet dieses Potenzial hat, zeigt sich nicht zuletzt in den Bemühungen verschiedener Länder, es zu unterdrücken. Die Machthaber in Ländern wie China, Burma, Simbabwe oder Saudi-Arabien wissen um die Kraft, die Information entfalten kann, wenn sie freigelassen wird, und unternehmen grosse Anstrengungen, um ihren Bürgern den Zugang zum Internet zu erschweren beziehungsweise diesen nach ihrem Gusto mit Zensur zu kontrollieren.

Aber: Das Internet informiert vor allem die Gutinformierten

Noch ist es so, dass eine Mehrheit von diesem Potenzial nicht profitiert. Nicht einmal jeder dritte Mensch auf dem Planeten hat Zugang zum Internet, hinzu kommt, dass die Möglichkeiten über Kontinente und Länder äusserst ungleich verteilt sind. Während in Industriestaaten heute bis zu neun von zehn Menschen auf die sprudelnde Informationsquelle Internet zugreifen können, ist es in Afrika nicht einmal einer von zehn. Gerade jenen, die von unabhängiger Information aus dem Netz am meisten profitieren könnten, weil sie in einem nichtdemokratischen Land leben, bleibt der Zugang verwehrt. Das Internet kann seine Wirkung als Instrument der Aufklärung global erst dann richtig entfalten, wenn alle Zugang haben. Der digitale Graben klafft nicht nur zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, er ist auch innerhalb der Länder deutlich zu beobachten. So haben in der Schweiz in der obersten Einkommensschicht nahezu hundert Prozent der Menschen zu Hause Internet. In der tiefsten Einkommensschicht sind es nicht mehr als vierzig Prozent. Es gilt, weltweit wie innerhalb einer Gesellschaft: Jene, die ohnehin schon gut informiert sind, werden durch das Internet noch besser informiert. Die anderen werden weiter abgehängt und es fällt ihnen noch schwerer, sich in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.

Ja, denn das Internet mobilisiert

Am 4. Februar 2008 gingen in über 100 Städten Kolumbiens insgesamt über 10 Millionen Menschen auf die Strasse, um gegen die Guerillaarmee FARC zu demonstrieren. Weitere zwei Millionen auf der ganzen Welt zeigten sich mit den Kolumbianern solidarisch. Was war geschehen? Nur einen Monat davor hatte ein einzelner Kolumbianer namens Oscar Morales auf Facebook eine Gruppe gegründet, um seinen Unmut darüber kundzutun, wie die FARC die Zivilbevölkerung seit Jahren in Angst und Schrecken hält. Über Nacht trat er eine riesige Bewegung los, die sich über Facebook verbreitete und schliesslich die Demonstrationen organisierte. Ein eindrückliches Beispiel für die Mobilisierungkraft des Internets. Im Juni 2009 hatte der Iran seinen Internet-Moment. Über den Kurznachrichtendienst Twitter wurden die Proteste gegen die Wiederwahl von Präsident Ahmadinedschad weit über die Grenzen des Irans hinausgetragen. Die Netzgemeinde solidarisierte sich mit den Aufständischen, Millionen von Menschen auf der ganzen Welt nahmen Anteil an einer Bewegung, die nicht nur geografisch weit weg war, sondern davor ausserhalb ihrer Aufmerksamkeit lag. Der damalige britische Premierminister Gordon Brown zeigte sich in einem Interview mit dem Guardian überzeugt, dass der Informationsfluss des Internets die Politik massiv verändert habe: Ein Genozid wie 1994 in Ruanda wäre heute nicht mehr möglich. Informationen darüber, was tatsächlich vor sich geht, hätten sich viel schneller verbreitet und öffentlichen Druck aufgebaut, der ein Handeln erzwungen hätte, sagte Brown. Genau in diesem Sinne agieren die Projekte Ushahidi (Suaheli für «Zeugenaussage») aus Kenia und CrowdVoice aus Bahrein, die Augenzeugenberichte und lokale Informationen aus Krisengebieten sammeln und der Weltöffent lichkeit zugänglich machen. Dabei findet eine doppelte Mobilisierung statt: Die Bevölkerung im Krisengebiet wird animiert, über die Lage vor Ort zu berichten, die Besucher der Plattform werden animiert, nicht tatenlos zuzusehen. Egal, wo und unter welchen Umständen, das Internet mobilisiert, weil es Gleichgesinnte vernetzt und Kommunikationswege verkürzt. So kann im Netz täglich beobachtet werden, wie sich Menschen zusammenfinden, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Sei es, um den ersten schwarzen Präsidenten der USA zu ermöglichen, Spenden für Haiti zu sammeln oder die Inkassostelle Billag abzuschaffen.

Aber: Es mobilisiert oberflächlich und kurzzeitig

Die Mobilisierungskraft des Internets ist auf den zweiten Blick nicht mehr so durchschlagend. Der Sprung in die reale Welt zu tatsächlicher Veränderung scheitert oft. Bestes Beispiel dafür ist Facebook, wo täglich Hunderte von Initiativen für alles Mögliche gestartet werden. Manche erhalten innert wenigen Tagen Unterstützung von Zehntausenden – um kurz darauf in Vergessenheit zu geraten. Dem Grosserfolg in Kolumbien stehen Unmengen gescheiterter Versuche gegenüber. Nicht selten ist die Mobilisierung Selbstzweck, sie lässt bei Uninteressierten für einen kurzen Moment einen revolutionären Tatendrang aufflackern, der sich dann in einem engagierten Klick für die gute Sache manifestiert. Im nächsten Moment wartet wieder ein lusti ges YouTube-Video. Mobilisierung über das Internet erscheint schnell eindrücklich, weil sie viele Leute für eine Sache gewinnt, die sich höchstens peripher dafür interessieren. Sobald der Schritt zu konkretem Handeln ansteht, ist die Aufmerksamkeit dieser Leute längst woanders. Auch einige der Paradebeispiele der Netz mobiliserung hinken. So hat die Internet-Kampagne für Barack Obama vor allem deshalb so gut funktioniert, weil sie mit viel Geld und Knowhow perfekt orchestriert wurde. Die Twitter-Revolution von Teheran war vor allem eine von aussen wahrgenommene und gespiesene. Im Ausland wurde über den Iran getwittert, die Demonstranten haben sich laut Beobachtern hauptsächlich über Mundpropaganda organisiert. Ironischerweise stellt sich die Internetmobilisierung selber ein Bein. Die Tatsache, dass so einfach mobilisiert werden kann, führt dazu, dass Unmengen von Anliegen um die Gunst der Netzgemeinde buhlen. In dieser Reizüberflutung geht die Wallung für den Einzelfall schnell mal verloren. Hätte es die Französische Revolution je gegeben, wenn neben dem Sturm der Bastille gleichzeitig auch noch ein Botellón im Bois de Boulogne, ein Protest gegen Studiengebühren an der Sorbonne und eine Architektenkundgebung für den Bau eines ikonenhaften Stahlturms stattgefunden hätten?

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Ja, denn das Internet setzt Eliten unter Druck

Das Internet informiert und mobilisiert. Dies ergibt eine explosive Mischung, die herrschende Eliten stärker unter Druck setzen kann als Hunderte Molotow-Cocktails. Das Internet hat ein Netzwerk geschaffen, in dem Kritik öffentlich gemacht werden kann und sich rasch verbreitet, wenn das Thema brisant genug ist. Die Kontrolle von Staat und Wirtschaft, die lange Zeit die Domäne von Massenmedien war, ist nun in der Hand jedes Einzelnen. Es ist praktisch unmöglich geworden, Fehlverhalten, welcher Art auch immer, für lange Zeit vor der Öffentlichkeit zu verbergen, weil viel mehr Augenpaare genau hinsehen und viel schneller viele Menschen von aufgedeckten Missständen erfahren. Befeuert wird diese Entwicklung beispielsweise von der Whistleblowing-Organisation WikiLeaks, die brisante, geheim gehaltene Dokumente veröffentlicht und damit schon grosse Konzerne und Staaten in Erklärungsnot gebracht hat. Ein anderes Beispiel für die Kraft des Internets ist der Spesenskandal unter britischen Politikern, der 2009 aufflog. Zahlreiche Politiker hatten auf Kosten des Steuerzahlers unverschämt hohe Spesen verrechnet. Die britische Zeitung The Guardian kam in den Besitz von Dokumenten, in denen die Spesen sämtlicher Abgeordneter erfasst waren, total 459 000 Seiten. Für die Redaktion ein Ding der Unmöglichkeit, diese nach den gravierendsten Fällen zu durchsuchen. Also hat der Guardian das Dokument ins Netz gestellt und seine Leser aufgefordert, die Zahlen ihrer lokalen Abgeordneten unter die Lupe zu nehmen. Tausende Bürger trugen so das Ausmass des Spesenskandals in England zusammen. Diese neue Form der Transparenz setzt die mächtigen Akteure unter Druck. Wer weiss, dass er beobachtet wird, handelt verantwortungsvoller.

Aber: Es verschafft den Eliten Druckmittel

Es versteht sich von selber, dass auch jene, die vom Internet unter Druck gesetzt werden, dieses für ihre Zwecke nutzen und ihrerseits als Druckmittel einsetzen. Nicht selten stehen ihnen dabei ungleich bessere Möglichkeiten offen als der breiten Masse. Sei es, dass sie finanziell bedingt einen besseren Zugang haben (wenn es sich um eine gesellschaftliche oder wirtschaftliche Elite handelt). Sei es, dass sie Informationsströme kontrollieren und überwachen oder ganze Kommunikationssysteme lahmlegen können (wenn es sich um eine politische Elite mit entsprechendem Machtmonopol handelt). So hat es beispielsweise bei der «Twitter-Revolution» im Iran nicht lange gedauert, bis das Regime das Internet genutzt hat, um Aufständische gezielt aufzuspüren und gegen sie vorzugehen. Wäre das Internet 1994 in Ruanda bereits weit verbreitet gewesen, hätte es den Genozid wohl nicht verhindert. Vielleicht im Gegenteil sogar verschlimmert. Als Kommunikationsinstrument in den Händen der mächtigeren Hutu hätte es als Propagandawaffe und zur Verfolgung von Tutsi verheerend gute Dienste geleistet. Gerade in Entwicklungsländern liegt die Kraft des Internets nicht in den Händen der Masse, sondern ist den Eliten vorbehalten. Heute, sechzehn Jahre nach dem Genozid, haben in Ruanda 3 von 100 Menschen Zugang zum Internet.

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