Gut und Böse

Sind Killerspiele tödlich?

Im Krieg, so heisst es, stirbt als Erstes die Wahrheit. In der virtuellen Kampfzone, so scheint es, zuerst der Verstand. Der Verstand jener, die gewalthaltige Computerspiele als Nährboden und Ausbildungsstätte für Mörder und Amokläufer sehen und sie darum Killerspiele nennen. Der Name als semantisches Präjudiz. Spiele, in denen gekillt wird. Spiele, die Killer hervorbringen. Spiele, die deshalb verboten werden müssen. Die Trübung des Verstands hat zwei schmerzhaft banale Gründe. Amokläufer haben statistisch gesehen eine Vorliebe für virtuelle Gewalt. Und viel zu viele Menschen haben keine Ahnung, wie man eine Statistik liest. Es ist in der Tat so, dass fast jeder Amokläufer davor bereits in Videospielen Menschen umgebracht hat. Daraus wird die Sinnhaftigkeit, ja Notwendigkeit eines Verbots abgeleitet. Der Verstand setzt aus, die Polemik ein.

Stattdessen wäre die ent scheidende Frage zu stellen: Ist der Zusammenhang ursächlich? Die beschriebenen Fakten taugen nur für eine Aussage ohne Wirkungsrichtung: Gewalttäter sind gerne auch virtuell gewalttätig. Menschen mit einer bestimmten Konstitution neigen zu Gewalt: virtuell (häufiger) und real (sehr selten). Dadurch ergibt sich logischerweise auch ein Zusammenhang zwischen virtueller und realer Gewalt – nur kein kausaler. Nicht zwingend ist das eine Ursache des anderen, vielleicht folgt beides aus derselben Ursache. Grundkurs Statistik, zweite Lektion.

Doch nur wenn ein eindeutiger kausaler Zusammenhang besteht, kann es sinnvoll sein, Gewaltspiele zu verbieten. Auf den Einzelfall bezogen muss die Frage lauten: Wäre der Mensch nicht Amok gelaufen, hätte er keine Killerspiele gespielt? Können wir sie mit Ja beantworten, so sind gewalthaltige Spiele zumindest einer von vielen Faktoren, die zu realer Gewalt führen. Die Forschung vermag dieses Ja nicht zu liefern. Sie zeichnet ein uneinheitliches Bild, mit der Tendenz: Es besteht kein kausaler Zusammenhang oder höchstens ein schwacher, kurzfristiger.

Der amerikanische Verhaltenspsychologe Christopher Ferguson, einer der führenden Experten zur Wirkung von gewalthaltigen Videospielen, hat 2006 in einer Überblicksstudie Untersuchungen der letzten 13 Jahre zu möglichen Zusammhängen von Killerspielen und realer Gewalt zusammengefasst. Sein Fazit: Brutale Videospiele machen nicht gewalttätig. Es könne kein ein deutig kausaler Zusammenhang festgestellt werden. In einem aktuellen Paper mit dem Titel Much Ado About Nothing (Viel Lärm um nichts) weist er darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen Killerspielen und Gewaltbereitschaft, den verschiedene Studien gefunden haben, praktisch verschwindet, wenn man andere Einflussfaktoren wie das Geschlecht, den Familienhintergrund, das soziale Umfeld oder psychische Erkrankungen herausrechnet. Isoliert betrachtet beträgt der statistische Zusammenhang zwischen gewalthaltigen Spielen und tatsächlicher schwerer Gewaltausübung 0.04 (ein Wert von 1 bedeutet, dass das eine direkt aus dem anderen folgt). Wer als Kind geschlagen wurde oder über eine aggressive Persönlichkeit verfügt, neigt deutlich stärker zu schwerer Gewalt (die entsprechenden Werte für den statistischen Zusammenhang betragen 0.22 und 0.25).

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Bei Menschen, die aufgrund anderer Faktoren bereits zu Gewalt neigen, könnten «Killerspiele» Gewaltphantasien verstärken, sagt Daniel Süss, Professor für Medienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Allgemein steigern Gewaltspiele das Aggressionspotenzial des Spielers aber nur kurzfristig, vergleichbare Effekte zeigen sich bei Spielen wie Fussball oder Handball. Laut der deutschen Medienpsychologin Sabine Trepte geht die Mehrheit der Wissenschaftler heute davon aus, dass die negativen Einflüsse von brutalen Videospielen geringer sind, als dies in öffentlichen Diskussionen oft behauptet wird. Trepte warnt aber davor, gewalthaltigen Spielen einen «Persilschein» auszustellen. Vertiefte Erkenntnisse könnten Langzeitstudien liefern. Die fehlten allerdings bisher weitgehend.

In der Rechtsprechung gilt das Prinzip in dubio pro reo. Reichen Beweise und Indizien nicht aus, um einen Angeklagten zu verurteilen, so ist er freizusprechen. Nach aktuellem Erkenntnisstand gibt es keinen Grund, gewalthaltige Spiele als gewaltfördernd zu verurteilen und zu verbieten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass jener Staat, der virtuelle Killerspiele verbieten will, nach wie vor Zehntausende junge Menschen dazu zwingt, bei einem viel realeren Killerspiel mitzumachen. In Alpentälern und auf Schiessplätzen wird das Töten mit echten Waffen geübt. Und damit potenzielle Gewalttäter, falls sie tatsächlich mal jemanden töten möchten, gleich eine Waffe zur Hand haben, dürfen sie ihr Gewehr aus dem Bevölkerungsschutz-Killerspiel mit nach Hause nehmen.

Wer Gewalt wirklich verhindern will, muss aufhören, blindwütig auf die leichtesten Ziele zu schiessen, und «Killerspiele» aus dem Visier nehmen. Gewalt entsteht in der Gesellschaft, nicht am Computer. Dies zu akzeptieren bedeutet freilich auch, sich von einfachen Lösungen zu verabschieden.

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