Sein und Selbst

Warum müssen wir immer alles fotografieren?

Was haben wir gelacht, damals, über diese übereifrigen Touristen aus Fernost, die immer alles fotografieren mussten. Einer von uns, der tiefsinnigste, hat dann jeweils angemahnt, das wäre doch pervers, wenn man die Welt nicht mehr mit den eigenen Augen, sondern nur noch durch eine Linse sehen würde.

Heute sind wir alle Touristen aus Fernost. Wir fotografieren nicht nur unseren Urlaub, wir fotografieren unser ganzes Leben. Hier ein Klick, da ein Cheese – lachen tut darüber schon lange niemand mehr.

Begünstigt wurde diese neuartige Bilderflut durch zwei technologische Errungenschaften: die Digitalfotografie und die Handykamera. Analoge Filmrollen hatten uns gelehrt, nur dann auf den Auslöser zu drücken, wenn es sich lohnt. Digitale Fotos schiessen wir beliebig, aussortiert wird später, sprich: nie. Seit zudem praktisch jedes Handy mit einer Kamera ausgestattet ist, haben wir stets eine Kamera dabei, selbst wenn wir keine eingepackt haben. Und Gelegenheit macht Fotos.

Die Technologie hat dafür gesorgt, dass wir viel weniger darüber nachdenken, was wir überhaupt fotografisch festhalten wollen. Unterbewusst spielt sich aber noch etwas ganz anderes ab, etwas viel Bedeutenderes. Wir verspüren einen grossen Drang, die Dinge, die wir erleben, zu dokumentieren. Nicht so sehr für uns selber, sondern für unseren Bekanntenkreis bei Facebook. Jeden Monat werden 3 Milliarden neue Fotos bei Facebook hochgeladen, das sind 4 Millionen pro Stunde. Auf anderen Plattformen werden weitere Abermillionen Fotos herumgezeigt.

Was wir da sammeln und austauschen, sind keine Erinnerungen. Es sind Beweisstücke. Denn ohne die – der CSI-Effekt hat uns alle erfasst – ist alles nichts wert. Wir brauchen diese Beweismittel, weil sie Teil unserer Identitätskonstruktion im Internet sind (Siehe: «Was macht die Technologie mit unserer Identität?»). Unsere Bilder sprechen für uns: Ich bin so cool, ich bin so tiefgründig, ich bin so weltgewandt. Und sie sind unser Beleg dafür, dass das Vergangene real ist und präsent bleibt.

Kurzbefehl von David BauerSie lesen einen Auszug aus dem Buch «Kurzbefehl. Der Kompass für das digitale Leben.» von David Bauer. Sie können das Buch jetzt bestellen, weiterstöbern, diesen Text kommentieren oder selber eine Frage zum digitalen Leben stellen. Ah ja, und via Facebook weiterempfehlen dürfen Sie es auch gerne.

In der Internetsprache hat sich bereits ein passendes Akronym herausgebildet: POIDH. Es wird gerne als Entgegnung verwendet, wenn jemand ein besonders eindrückliches oder lustiges Erlebnis schildert. POIDH steht für Pictures or it didn’t happen, also sinngemäss: «Zeig uns Bilder davon oder wir glauben dir nicht.»

Auf spielerische Art wird hier ein fundamentales Prinzip angewendet. Die Vorstellung nämlich, dass Ereignisse erst durch ihre Dokumentation in das kollektive oder zumindest geteilte Gedächtnis übergehen. In der heutigen, stark audiovisuell gepägten Welt reicht eine Erzählung als Dokumentation kaum mehr aus. Dies bringt POIDH zum Ausdruck. Wir glauben es dir erst, wenn wir es mit eigenen Augen (auf einem Foto) gesehen haben. Und solange wir dir nicht glauben, ist die Erinnerung nichtig und das Erlebte quasi nachträglich getilgt. Mit dem technischen Fortschritt wächst die Erwartungshaltung gegenüber Dokumenten von Erlebnissen.

Wenn doch jeder ein Kamerahandy bei sich trägt, wieso existiert dann kein Bild davon, wie er Roger Federer im Park angetroffen hat? Der Erlebnisbericht wird in Zweifel gezogen, weil er nicht den aktuellen technischen Möglichkeiten entspricht. Fotos ihrerseits laufen bereits Gefahr, ihre dokumentarische Autorität zu verlieren. Genauso wie Fotos der reinen Erzählung in Worten die Beweiskraft geschmälert haben, ergeht es den Fotos selber nun mit Bewegtbildern. Zeig uns ein Video davon oder es ist nie passiert.

So ist das Verlangen nach Bildern letztlich seinerseits ein Beweis. Ein Beweis dafür, wie die fortschreitende Technik unsere Lebenswirklichkeit und unser Selbstbild umformt.

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