Gut und Böse

Wer kontrolliert das Internet?

Darauf gibt es zwei Antworten. Und beide machen die Erfinder des Netzes nicht wirklich glücklich.

Zu wenige kontrollieren das Internet im Sinne von: dominieren. Zu viele kontrollieren das Internet im Sinne von: überwachen. Die Vision von Tim Berners-Lee, der 1989 am Cern in Genf den Grundstein für das heutige World Wide Web gelegt hat, ist die eines offenen Netzes, möglichst frei von Kontrolle und Dominanz: «Niemand soll das Internet kontrollieren. Wir müssen jedem dahingehenden Versuch, sei es von Institutionen oder Firmen, widerstehen.» Das von ihm gegründete World Wide Web Consortium (W3C) hat zum Ziel, das Internet in diesem Geiste dazu zu führen, sein Potenzial voll auszuschöpfen und es für alle Menschen gleichermassen zugänglich zu machen.

Die Realität sieht anders aus. Die Entwicklung geht heute hin zu mehr Dominanz und mehr Überwachung. Einige wenige Giganten stellen das Netz von innen auf die Probe. Tim O’Reilly, einer der grossen Vordenker der Netzgemeinde, spricht in einem Essay vom War For The Web, der aktuell im Gange sei. «Wir bewegen uns auf eine blutige Ära des Wettstreits zu», schreibt er, «der dem Netz, wie wir es heute kennen, extrem schaden kann.» Die grösste Gefahr sieht O’Reilly darin, dass die grossen Player wie Google, Apple, Microsoft, Facebook oder Amazon in ihrem Bestreben, Nutzer möglichst eng an sich zu binden, die offene Natur des Netzes zerstören. Der Economist warnt in einem aktuellen Artikel vor einer «Balkanisierung des Netzes». So wird in der Welt der Handy-Applikationen die Information des Internets zersplittert und in einzelnen Programmen eingeschlossen. Apple bestimmt rigoros, welche Programme es in seinem App-Store zulässt und welche nicht. Facebook macht es den Leuten einfach, sein Universum zu betreten, doch schwer, es wieder zu verlassen. Amazon verkauft nur elektronische Bücher für sein eigenes Lesegerät Kindle, die auf anderen E-Readern nicht gelesen werden können. Wer ein Android-Handy mit all seinen Funktionen nutzen will, braucht einen Google-Account.

Diese Tendenz bringt eines der wichtigen Funktionsprinzipien des Internets ins Wanken: die Interoperabilität – dass also die verschiedenen Elemente des Internets nahtlos zusammen funktionieren und dem Nutzer zu erlauben, sich frei hin und her zu bewegen. Die grossen Player sähen am liebsten, wenn sie ihre Nutzer in einem grossen, aber geschlossenen Universum exklusiv bedienen könnten. Es erstaunt wenig, dass Google, Microsoft und Apple, ursprünglich aus unterschiedlichen Kerngeschäften kommend, allesamt zu Komplettanbietern geworden sind und heute Handys, Software, Betriebssysteme, Browser, Webdienste, Musikplayer und vieles mehr im Angebot haben. Verschärft sich O’Reillys Krieg um das Netz, werden möglicherweise dereinst die Grenzen geschlossen und wir Internet-Nutzer müssen uns entscheiden, ob wir uns im Apple-Netz oder im Facebook-Netz bewegen wollen. AOL und die 90er Jahre lassen grüssen. Damals war es AOL-Kunden nicht einmal möglich, E-Mails an Kunden der Konkurrenz zu schicken.

Eine solche Entwicklung wäre für das Netz so verheerend, wie wenn Sie sich in Ihrer Stadt nicht mehr frei bewegen könnten und sich zwischen verschiedenen gated communities entscheiden müssten, wo Sie dann nur nutzen und konsumieren könnten, was innerhalb der Zäune angeboten wird.

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Neben der Bedrohung von innen, der zunehmenden Kontrolle durch dominante Monopolplayer, muss sich das Internet weiterhin starker Kontrollversuche von aussen erwehren. Global gesehen das grösste Hindernis für die Entfaltung des Internets bleibt die Zensur. In 46 Ländern, die zusammen über die Hälfte der Weltbevölkerung beheimaten, verwehrt der Staat den Zugriff auf mehr oder weniger grosse Teile des Internets und überwacht die Nutzung so rigoros, dass jeder, der auf sich auf den «falschen» Seiten bewegt, gefährlich lebt.

Doch nicht nur Länder, die ihre Bürger vom Internet oder von bestimmten Inhalten fernhalten wollen, haben ein wachsames Auge auf das Internet. Mit der Begründung, dass das Internet ein wichtiges Werkzeug für Kriminalität und Terrorismus sei, wollen viele Staaten möglichst viel Einblick in das Kommunikationsverhalten ihrer Bürger. So müssen Netzbetreiber in der Schweiz für sechs Monate speichern, wer wem wann E-Mails verschickt. Per Gerichtsbeschluss können die Strafverfolger darauf zugreifen (bis 2008 war dafür eine Behörde mit dem konspirativ klingenden Namen «Dienst für besondere Aufgaben» zuständig). In England und Frankreich sind bereits umfassendere Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung in Kraft, in den USA wird darüber diskutiert. In Deutschland dagegen ist ein entsprechender Gesetzesentwurf Anfang 2010 für verfassungswidrig erklärt worden.

Für die aktive Kontrolle des Internets ist in der Schweiz – neben dem Geheimdienst natürlich – die Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität zuständig, eine Abteilung der Bundeskriminalpolizei. Mittels spezieller Software spürt sie beispielsweise Leute auf, die Kinderpornografie aus dem Netz herunterladen. Sie kann ausserdem den Zugang zu Websites mit kinderpornographischem Inhalt sperren, wenn sie der Betreiber nicht habhaft werden kann. Einige hundert Websites sind aus diesem Grund aus der Schweiz heraus nicht erreichbar.

Eine bedeutende Rolle im Ringen um die Kontrolle des Internets kommt auch den Serviceprovidern zu, die letztlich den Flaschenhals darstellen, durch den das Internet zu den Menschen kommt. Seitens der Anbieter ist zuletzt die Forderung lauter ge worden, das Prinzip der Netzneutralität aufzuweichen. Google und der amerikanische Netzbetreiber Verizon haben im August 2010 einen gemeinsamen Vorstoss lanciert, der de facto die Aufhebung der Netzneutralität anstrebt. Netzbetreiber sollen wählen dürfen, welche Dienste sie bevorzugt behandeln, sprich: welche Datenpakete schneller durch ihr Netz geschickt werden. Heute verbietet die Netzneutralität den Anbietern, nach inhaltlichen Kriterien Einfluss zu nehmen auf die Verfügbarkeit, Priorisierung oder Bandbreite der Daten. Es geschieht aber bereits: Einzelne Anbieter drosseln etwa die Bandbreite von Tauschplattformen, weil diese sonst mit ihrem hohen Datenaufkommen andere Dienste verlangsamen könnten, so die Begründung.

Ohne garantierte Netzneutralität droht wie durch den War For The Web eine Fragmentierung des Angebots. Netzbetreiber und Inhalteanbieter könnten Allianzen schmieden, so dass beispielsweise bei Verizon-Kunden YouTube-Videos schneller laden würden als jene der Konkurrenz oder dass gar einzelne Dienste nur in bestimmten Netzen verfügbar wären, wenn Exklusivverträge geschlossen werden können. Der Economist zeichnet in seinem Artikel das düstere Bild eines Mafia-Systems, in dem Netzanbieter von Inhalteanbietern Schutzgelder kassieren, damit deren Daten schnell genug zu den Kunden geliefert werden. Im schlimmsten Fall zerfällt das Internet wieder in einzelne Netze, jedes kontrolliert von einer anderen Mafia-Gruppierung.

Das Internet steht in den nächsten Jahren grossen Herausforderungen gegenüber, wenn es offen bleiben und sein volles Potenzial ausschöpfen will. Nur so kann es der Vision seiner Erfinder gerecht werden: dass alle Menschen frei miteinander kommunizieren und Information und Daten austauschen können.

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