Sein und Selbst

Wie verändert die Digitalisierung unser Denken?

Als wäre der digitalen Generation im Rausch der virtuellen Existenz das memento mori abhanden gekommen, wird uns zuletzt immer öfter und immer eindringlicher zugerufen: Die Digitalisierung verändert unser Denken irreversibel, das Internet macht uns dauerhaft plemplem!

Manchen hat es schon früh erwischt. Ich erinnere mich an den Informatikunterricht am Gymnasium. Es war 1996, wir haben eine neuartige Suchmaschine namens Altavista kennengelernt und gestaunt wie die Weltmeister, als wir mit ein paar Texteingaben den Universitätsserver von Uppsala in Schweden anpingen konnten. Unser Informatiklehrer war schon damals auf binäres Denken umgepolt. Es gab nur die Noten 1 und 6, denn im Internet, so erklärte er uns, gibt es nur «Strom» und «Kein Strom». Entweder es geht oder es geht nicht. In seinen Augen waren wir binäre Schüler, Einsen und Nullen.

War das damals ein Einzelfall, so stehen wir heute alle am Abgrund, das Gehirn vom Internet narkotisiert. So verkünden es uns die apokalyptischen Schreiber von den Bestseller-Regalen. Frank Schirrmacher mahnt, dass Computer uns ein Verhalten aufzwingen, das uns nicht nur unkonzentriert macht und uns nicht mehr klar denken lässt, sondern das uns ernsthaft schadet: «Multitasking ist Körperverletzung.» Nicholas Carr fürchtet, dass die Informationsflut die Schleuse zwischen unserem Kurz- und Langzeitgedächtnis verstopft und unser Denken zu einem Waten im Seichten verkümmert.

Was sie beide in einem intellektuellen cri du cœur beschreiben, ist der drohende Rückfall vor die Aufklärung, zurück zur selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen, der schleichend die Fähigkeit verliert, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Während wir das Digitale für uns denken lassen, verkümmere unsere Fähigkeit, selbständig zu denken. Das Internet, so die Argumentation, ist nicht gut für den Menschen, weil es nicht seiner Natur entspricht. Ein süsses Gift, das unser Gehirn langsam zersetzt.

Das Heimtückische ist, dass man den Schwarzmalern nicht so richtig widersprechen mag. Dieses Gefühl, dass uns das Digitale bisweilen in der Konzentration stört und das Denken lähmt, es ist da. Ich sitze vor dem Computer und habe vergessen, was ich vor einer Sekunde wollte. Klicke mich durch Fenster und Suchmaschinen und finde nirgendwo die Ruhe, mich zu konzentrieren (Siehe: «Wie wehre ich mich gegen die digitale Demenz?»). Was wir dabei vergessen: Wir waren auch vor der Erfindung des Internets nicht stets voll konzentriert und jederzeit zu kristallklaren Gedanken fähig. Wir vergleichen des homo digitalis’ Art zu denken mit einem Ideal, das es so nie gegeben hat. Weil wir kurzfristig zerstreut sind, heisst das nicht, dass wir langfristig Schaden davontragen. Und falls Computer unser Verhalten und unsere Art zu denken tatsächlich verändern, bedeutet auch das nicht automatisch, dass wir dem Untergang geweiht sind.

Statt dem eigenen mulmigem Gefühl zu trauen oder Autoren, die dieses weiter zuspitzen, will ich es selber wissen. Ich lasse mein Gehirn testen, um herauszufinden, ob ich noch klar denken kann wie es dem Homo sapiens von der Evolution einst zugedacht war, oder ob das Internet meine Neuronen durchgeschüttelt und meinen Verstand schummrig gemacht hat.

Kurzbefehl von David BauerSie lesen einen Auszug aus dem Buch «Kurzbefehl. Der Kompass für das digitale Leben.» von David Bauer. Sie können das Buch jetzt bestellen, weiterstöbern, diesen Text kommentieren oder selber eine Frage zum digitalen Leben stellen. Ah ja, und via Facebook weiterempfehlen dürfen Sie es auch gerne.

Ich steige hinab ins schmucklose Untergeschoss des Psychologischen Instituts der Universität Basel, lasse mich in ein Labor führen, wo sonst Schizophrene, Demente und Alzheimerkranke getestet werden. Ich habe die Kognitionspsychologen der Universität beauftragt, mein Gehirn unter die Lupe zu nehmen. Das Labor hat den Charme einer einengenden Zelle, ist spartanisch eingerichtet. Ein Fenster, ein Tisch und ein Computer. Meine Gemütslage verändert sich. Bis eben war ich vergnügt-gespannt, nun nervös-angespannt. Wird mir am Ende ein Computer sagen, dass die Maschinen mich um den Verstand gebracht haben?
Mein halbes Leben schon nutze ich das Internet täglich, beruflich und privat. In den letzten fünf Jahren sass ich durchschnittlich acht Stunden pro Tag davor, Wochenenden und Ferien eingerechnet. Fünfzehntausend Stunden Internet sind das. Wenn das Internet unser Denken tatsächlich nachhaltig verändert, bin ich ein sicherer Kandidat. Was, wenn die Tests tatsächlich zeigen, dass meine Konzentration gestört ist, mein Kurzzeitgedächntis gelitten hat oder die Informationsverarbeitung nicht mehr richtig funktioniert? Würde ich dann fortan das Internet weniger nutzen? Kann ich das überhaupt noch?

Es bleibt glücklicherweise wenig Zeit zum Grübeln, das Experiment beginnt. Auf einer Metallplatte sind kleine Würfelchen montiert, zehn an der Zahl, ohne erkennbares Muster. Die Übungsleiterin tippt mit dem Finger eine Reihe von Würfelchen an, ich muss in der gleichen Reihenfolge wiederholen. Bei einer Folge von fünf Würfeln gerate ich das erste Mal ins Stocken, bei sieben scheitere ich. Ist das normal? Ist das sehr schlecht? Ist das Internet schuld? Ich schaue die Psychologin fragend an, sie zeigt keine Regung. Nächste Aufgabe. Wieder tippt sie Würfelchen an, ich muss in umgekehrter Reihenfolge wiederholen. Ich ahne Böses, zu meinem Erstaunen fällt mir diese Aufgabe aber leichter als die erste. Ich zögere kaum je, bei acht Würfeln ist trotzdem Schluss. Wieder kein Kommentar der Psychologin.

Im nächsten Test sagt mir der Computer eine Reihe von Zahlen, alle drei Sekunden eine neue. Ich muss fortlaufend jeweils die beiden letztgehörten Zahlen addieren und das Resultat in ein Mikrofon sprechen. Das Herausfordernde an diesem Test ist, dass man jeweils die Zahl, die man selber ausspricht, sofort wieder aus dem Gedächtnis löschen und die letztgehörte wieder in Erinnerung rufen muss. Das Angenehme an diesem Test ist, dass die Psychologin den Raum verlässt. Nur ich und der Computer, dieses Setting behagt mir. Drei Minuten lang muss ich Zahlen zusammenrechnen, nach zwei Minuten ertappe ich mich, wie ich beginne, über den Test nachzudenken. Sofort komme ich aus dem Tritt, verpasse meinen Einsatz, ärgere mich. Bin ich ein bisschen zu meta? Oder kann ich mich nur zwei Minuten ernsthaft konzentrieren? Ist das Internet schuld?

Die Psychologin kommt zurück in den Raum, diesmal schaue ich sie nicht fragend an. Ich will keinen Kommentar hören. Ich fühle mich ertappt, der Test hat eine Schwachstelle bei mir aufgedeckt. Lieber weiter zum nächsten Test. Der Computer blendet im Abstand von fünf Sekunden Zahlen ein, ich muss per Tastendruck bestätigen, ob die eingeblendete Zahl mit der letzten identisch ist oder nicht. Drei Minuten dauert das. Nach der ersten frage ich mich, warum die Zahlen in einer so unangenehmen Schriftart weiss auf schwarz dargestellt werden. Nach der zweiten schweife ich mit den Gedanken ab. Und verpasse prompt fast einen Einsatz. Dieser Test ist schlicht zu einfach für mich. Oder ist das Internet schuld? 100 Prozent richtige Antworten zeigt der Computer schliesslich an. Welch ein Affront! Als würde man mich beklatschen dafür, dass ich 10 Meter geradeaus gehen kann. Doch der Schwierigkeitsgrad wird schnell erhöht. Zunächst muss ich die eingeblendete Zahl mit der vorletzten, dann mit der drittletzten vergleichen. Heisst: Drei Zahlen in der richtigen Reihenfolge im Gedächtnis behalten und alle fünf Sekunden die älteste aktivieren, dann vergessen und eine neue aufnehmen. Als der Computer nach drei Testminuten anzeigt, dass ich in 96 Prozent der Fälle richtiglag, bin ich richtig erschöpft. Und fühle mich ein wenig schuldig, weil ich zeitweise den Faden verloren und nur noch nach Intuition die Tasten gedrückt hatte. Hat mir die Aufgabe die Grenzen aufgezeigt? Grenzen, die die Natur setzt oder die das Internet gesetzt hat? Oder hat mir das Internet gar die Gabe gegeben, selbst im Zustand der Verwirrung intuitiv das Richtige zu tun? Mit einem müden Kopf voller Fragezeichen werde ich fürs Erste in die Freiheit entlassen.

Eine Woche später muss ich zum zweiten Mal antreten, dieselben Tests wiederholen. Sie fühlen sich plötzlich schwieriger an, bei den Zahlenreihen schweife ich schneller ab und muss zum Ende ordentlich kämpfen. Was ist los mit mir? Vor dem ersten Test hatte ich mir eine Internet-Auszeit von einer Woche gegönnt, vor dem zweiten meinen Internetkonsum über das übliche Mass hinaus hochgeschraubt. Ich ärgere mich, dass ich beim zweiten Mal mehr Mühe hatte als beim ersten Mal. Ist das Internet schuld?

Der Moment der Abrechnung: Ich habe beim zweiten Mal – ja: beim zweiten Mal – durchs Band besser abgeschnitten als beim ersten Mal. Insgesamt sind meine Resultate sehr gut. Visuelles Kurzzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis, visuell-räumliches Lernen, auditiv-verbale Aufmerksamkeit und die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung – funktioniert alles bestens, heavy Internetuser zum Trotz. Auch kurzfristig hat eine massive Internetnutzung, rechnet man die möglichen Lerneffekte zwischen des Tests heraus, meine Denkfähigkeit sicher nicht verschlechtert.

Streng wissenschaftlich gesehen beweist dies natürlich gar nichts. Aber es ruft etwas Zentrales in Erinnerung: Unser subjektives Empfinden deckt sich nicht zwangsläufig mit der Realität. Nur weil wir bisweilen das Gefühl haben, das Internet bringe unsere Gedanken durcheinander, heisst das nicht, dass es grundsätzlich so ist. Das Internet hat als vernetztes, nicht lineares Medium vielleicht gar besonders stark das Potenzial, unsere Wahrnehmung zu trüben. Indem es uns mit Eindrücken und Informationen überflutet, macht es uns extrem bewusst, was wir alles nicht wissen und in einem bestimmten Moment gerade nicht erledigen. So erscheint das, was wir geregelt kriegen, im Verhältnis geringer.

Technologische Entwicklungen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft werden kurzfristig überschätzt, langfristig aber unterschätzt. Wenn wir darüber nachdenken wollen, ob das Internet unser Denken verändert, dürfen wir nicht vergessen, dass es das World Wide Web seit gerade Mal zwei Jahrzehnten gibt; die regelmässige Nutzung in einer breiten Bevölkerung findet seit knapp zehn Jahren statt. Antworten werden kommen, aber nicht mit Carr und Schirrmacher, sondern mit der Zeit. Bis dahin würde uns allen in dieser Frage ein wenig Agnostik gut tun.

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